Es sind Freudentränen die mir in die Augen kommen. Große Tränen und mir geht es wirklich gut. Erschöpft lege ich meinen Rucksack ab und sinke in den Schnee direkt neben dem Stein, der den Gipfel des höchsten Berges Europas markiert. Ich habe den Elbrus geschafft. 5.642 Meter voller Anstrengungen, Freude und Leidenschaft. Dieser Moment gehört mir!
Die Welt um mich herum ist mir für einige Minuten egal, mein Puls beruhigt sich langsam und die Kraft in den Beinen kommt auch wieder. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ein Lächeln schwingt mir entgegen, als Dimitry mir die Hand reicht und mir gratuliert. Er hat mich hier hoch gebracht, mein Bergführer und treuer Begleiter in den letzten acht Tagen.
Stürmische Tage an der Flanke des Elbrus
Nur einige Tage vorher führt Dimitry mit strengem Regime die Uhr an. Pünktlichkeit wird groß geschrieben. Die Organisation ist entsprechend straff. In Perfektion wird eine Menschenkette organisiert und die Gondel der Seilbahn beladen, die uns einige hundert Meter dem Gipfel näher bringt. Der Umstieg in die nächste Gondel funktioniert wieder minutiös und selbst als unsere Gepäckstücke und die gefühlten 300 Kilo Verpflegung auf Einzelsitzen auf dem letzten Abschnitt im Sessellift mitfahren dürfen geht alles gut.
Auf der Hütte begrüßt uns Palina, die Hüttenwirtin. Freundlich, offen, lustig und großzügig führt sie hier oben die Hütte. Auf keiner Karte findet sich die Hütte, so neu scheint sie zu sein und so bizarr. Im unteren Stockwerk sammeln sich Container und Bauwagen und bilden die Seele der Hütte mit den Küchen, den Esssälen und dem Anziehraum. Im oberen Stockwerk reihen sich saubere holzgetäfelte Zimmer mit „bequemen“ Betten. Insgeheim bin ich glücklich, nicht in den Botschkis, den Fässern, schlafen zu müssen. Die seit Jahren bekannteste Unterkunft sieht auch von der Nähe aus nicht bequem aus. Ausprobiert habe ich es natürlich nicht.
Mit uns kommt der Wetterumschwung. Als Deutscher redet man ja gerne über Wetter, aber hier in den Bergen ist es überlebenswichtig. Da schaut jeder dreimal hin und wir spüren es am eigenen Leib. Auf 3800 Metern wechseln sich Sonne, Wind, Wolken und Sturm in Augenblicken ab. Nach unserem ersten Tag auf der Hütte verschwindet der Gipfel in schweren Wolken. Unser Höhentraining wird immer beschwerlicher. Eigentlich wollen wir bis 4800 Meter aufsteigen und uns an die Höhe gewöhnen. Während wir am ersten Tag noch moderaten Wind haben, werden wir am zweiten Tag von bis zu 50 km/h gepeitscht. Jedes Gespräch wird zu einem Wettkampf zwischen Sturm und Stimme. Jeglicher Versuch, in die Ferne zu sehen, wird durch Wolken und Nebel zunichte gemacht. Ein totales „White-Out“ – absolutes Weiß. Der Schnee ist nicht mehr von den Wolken zu unterscheiden und ein Blick über meine Schulter verliert immer mehr an Bedeutung, da ich meine Nachfolger nur noch erahnen kann.
Wie an Perlenketten kommen uns immer wieder Gruppen entgegen. Ihre Blicke sind gesenkt, das Gesicht aus dem Wind gedreht und fast wie in Trance ziehen sie vorbei und verschwinden wieder in der weißen Wand. Mit zunehmender Höhe werden die Schritte kleiner, das Schnaufen größer und der Wind weht uns fast von den Stöcken. Wir brechen ab! Es wird einfach zu gefährlich und wir haben es nicht nötig mit unserer guten Kondition die Gefahr heraufzubeschwören.
Dafür genießen wir unsere Mahlzeiten. Ohne Ende wird uns beste russische Küche aufgetischt. Unsere Köchin zaubert in ihrem kleinen Koch-Container zwei Gänge Menüs. Rotebeetesuppe, Hühnersuppe, Pfannkuchen, Fisch, Teigtaschen und noch vieles mehr. Brot, Salat und Süßigkeiten runden die Menüs ab. Sie hat ordentlich zu tun. Sechs Vegetarier, zwei Allergiker und dann auch noch der spezielle Geschmack von unseren indischen Bergsteigern. Bald kochen sie für sich selbst und neben russischer Küche werden wir zu indischen Gerichten eingeladen. Der Kreativität mit den beschränkten Mitteln auf der Hütte sind keine Grenzen gesetzt.
Der Traum vom Gipfel
Das schlechte Wetter verzieht sich langsam. Wir proben ein letztes Mal den Ernstfall und rutschen mit Absicht einen Hang hinunter. Wir merken schnell, dass es überlebensnotwendig ist, sofort zu reagieren. Jede rutschende Sekunde mehr macht eine Notbremsung mit der Eisaxt immer unwahrscheinlicher. Dimitry lässt keinen Fehler durchgehen und erst als alles passt, entlässt er uns in unseren letzten freien Nachmittag vor dem Gipfelsturm. Die Anspannung in der Gruppe wird durch Bierchen in Schach gehalten. Diskussionen entstehen über die Zwiebelschichten der Kleidung; die Anzahl der Socken wird debattiert, die Anzahl der Jacken beraten. Welche Temperaturen erwarten uns? Einfach ist die Einschätzung nicht.
Am späten Nachmittag treffen wir uns mit allen Guides zusammen und prüfen ein letztes Mal die Sicherheitsausrüstung und die Klettergurte werden anprobiert. Nichts darf jetzt mehr wackeln, die Abläufe sind tief verinnerlicht. Nachts haben wir keine Chance mehr, Fehler zu beheben.
Erst jetzt erfahre ich, dass mir mein Wunsch erfüllt werden kann. Zusammen mit Günter und Vasili unserem Bergführer, werde ich von der Hütte aus den Gipfelversuch starten. Die Nachricht kommt überraschend. Ich hatte schon nicht mehr dran geglaubt. Sofort mache ich mich an die Vorbereitungen, packe meinen Rucksack, lege mir die Kleidung für die Nacht raus und prüfe ein allerletztes Mal die Ausrüstung. Im Kopf spiele ich den nächtlichen Ablauf bis zum Verlassen der Hütte durch. Was muss ich wann anziehen? Wann ist die letzte Chance auf einen Toilettengang und was muss ich nachts noch alles essen und einpacken.
Als das Abendessen um halb acht vorbei ist, springe ich sofort in meinen Schlafsack und versuche ein Minimum an Schlaf zu bekommen. Ein aussichtloses Unterfangen. Wirklich gut schlafe ich nicht und als um elf Uhr der Wecker klingelt, bin ich schon längst wach. Ab jetzt heißt es nur noch funktionieren. Mir gegenüber kriecht Günter auch aus dem Schlafsack. Für mehr habe ich gerade keinen Blick. Die anderen sechs im Zimmer haben noch bis 1:30 Uhr Zeit zu schlafen. Wir ziehen uns so leise wie möglich im Schein der Kopflampe an.
Meine Thermosflaschen warten schon im Frühstücksraum auf mich. Dimitry erinnert mich noch daran, ausreichend Zuckerwürfel in den Tee zu werfen und reicht mir eine handvoll Zucker.
Ohne wirklichen Hunger löffle ich meinen Haferbrei leer und versuche, noch ein Brot zu essen. Als ich dann endlich in meinen Schuhen stecke, gibt es kein zurück mehr. Wir treten in die Dunkelheit hinaus. Der Mond ist hell, ein paar Lampen an anderen Hütten flackern in der Ferne und unsere Kopflampen werfen drei Lichtkegel in den Schnee. Ohne Zeitdruck marschieren wir los. Den ersten Teil der Strecke kennen wir schon im Schlaf.
Am Berg tauchen immer mehr Lichter auf. Die Camper und die Bergsteiger aus höheren Hütten sammeln sich zu verstreuten Lichterketten am Hang. Drei-ein-halb Stunden später treffen wir am Absetzpunkt der Schneeraupe an den Pastukhov Felsen auf den zweiten Teil der Expeditionsgruppe. Sie haben den kräftesparenden Weg gewählt und die 1000 Höhenmeter bis hierhin mit der Schneeraupe zurückgelegt. Ich und Günter sind nach knapp einer halben Stunde warten leicht durchgefroren. Der Wind bläst noch stärker als erwartet. Im Zickzack gehen wir den steilen Berg hinauf. Jede Spur, jeder vorhandene Tritt macht den Aufstieg einfacher. Jede Wendung bringt für den Körper abwechselnd links und rechts eine kurze Erholung von dem Wind. Die steile Flanke ist jetzt mitten in der Nacht erleuchtet. Die starken Scheinwerfer der Schneeraupen verwandeln die Szenerie in ein großes Sportstadion.
Wir schnaufen immer höher. Es wird kein Wort gewechselt. Jeder schaut auf die Schuhe seines Vordermannes. Wer hinter mir läuft erschließt sich mir für eine ganze Weile nicht. Zu fokussiert bin ich, meine Schritte sorgfältig zu setzen. Zu frustrierend ist es, wenn der Tritt wegsackt und ich den Tritt noch einmal setzen muss. Kurz nach 4 Uhr sind dann die ersten Orangetöne am Horizont zu erkennen. Die Sonne geht langsam auf und wir tauschen die Kopflampen gegen Sonnenbrillen.
Jede Stunde gönnen sich die Bergführer eine Zigarette. Allen bleibt so schon die Luft weg, aber die fünf Minuten Pause werden dennoch dankbar angenommen. Es ist jedes mal ein Akt, sich aus den Wanderstöcken mit den riesigen Handschuhen zu befreien, sich einen Tee einzuschenken und etwas zu essen. Und: ich vergesse eine ganze Weile etwas zu essen. Erst als mir regelrecht schummrig ist, komme ich auf die Idee, dass mir nicht die Höhe zusetzt, sondern mein leerer Magen. Ein paar Süßigkeiten helfen mir wieder zurück auf die Beine.
Bei der nächsten längeren Pause finde ich sogar noch mehr zu Essen in meinem Rucksack. Ich bin verwundert, was ich nachts wohl so alles eingepackt habe. Ich bin jetzt schon ziemlich fertig und würde am liebsten eine Runde schlafen. Ich reiße mich zusammen und folge meiner Gruppe in den Stau. Nach drei schlechten Tagen am Berg nutzen hunderte Bergsteiger den ersten guten Tag für ihren Gipfelversuch. An der Schlüsselstelle reihen sich die Bergsteiger. Nur im Schneckentempo geht es vorwärts. Kräftezehrende Minuten; fast ein-ein-halb Stunden brauchen wir für die letzten 300 Höhenmeter vom Sattel bis zum Gipfel.
Steffen überholt mich in einer meiner vielen Verschnaufpausen. Gefühlte 50 Meter laufen, Pause und dann wieder weiter. Der Gipfel ist jetzt nur noch wenige hundert Meter entfernt. Alle Befindlichkeiten schalte ich nun aus und schließe wieder auf. Zusammen erreichen wir den Gipfel. Unser Ziel. Neun Stunden nach den ersten Schritten an der Hütte, acht Tage nach unserer Ankunft im Kaukasus und ein Jahr nach der ersten Idee, diesen Berg zu besteigen. Ein überwältigendes Gefühl. Wir haben es geschafft!
Podcast der Expedition
Du möchtest die ganze Geschichte auf deine Lauscher? Als besonderes Highlight gibt es die Expedition als Podcast von „Radioreise“ mit Alexander Tauscher. Einfach dem Link folgen.
Dmitry – Leidenschaft für die Berge
Video-Link: https://www.youtube.com/watch?v=QFYKuiMPWFg
Grenzgänger am Elbrus
Teil 1 – Der Traum vom Gipfelsturm
Teil 2 – Stürmische Tage
Mit freundlicher Unterstützung von ElbrusTours, Cumulus Schlafsäcke und RingWerbung.
Magst du diesen Artikel? Teile ihn auf...